Jugend
Die frühen Jahre
„In meinem Leben passt eigentlich nichts zusammen. Und trotzdem führe ich ein sehr positives Leben.“
Mit 95 Jahren, blickt Hilde Zadek dankbar und stolz zurück. Sie ist sich bewusst, dass ihre Geschichte ganz anders hätte verlaufen können.
Geboren ist sie im Dezember 1917, während des Ersten Weltkriegs, in Bromberg (heute Bydgoszcz): das erste Kind von Else und Alex Zadek, dessen Familie eine Gerberei und Schuhmacherei betrieb. Als Bromberg nach dem Krieg polnisch wurde, haben die meisten Juden die Stadt verlassen. „Nur mit einem Rucksack und ohne Kapital“ übersiedelte Familie Zadek nach Stettin (heute Szczecin). Dort gründete Alex ein Schuhgeschäft, das binnen kurzer Zeit zu einem vierstöckigen Schuhpalast expandierte. Die Familienverhältnisse verbesserten sich dramatisch: Alex baute eine großzügige Villa, die Familie genoss Ferien in den Bergen und am Meer, und die drei Mädchen, Hilde, Ruth und Edith, besuchten eine gute Schule. „Wir waren fröhliche, unbeschwerte Kinder.“ Doch damit nahm es für Hilde 1934 ein abruptes Ende.
Provoziert durch eine antisemitische Beschimpfung in der Turnhalle, schlug Hilde einer Klassenkameradin die Vorderzähne aus. „Ich musste sofort weg, sonst wäre ich verhaftet worden.“ Die 16-Jahrige floh alleine nach Berlin, dann weiter nach München, wo sie als Säuglingsschwester und Haushaltshilfe ausgebildet wurde, als Vorbereitung für die „Hakhsharah“, die Emigration nach Palästina. Einsam, unglücklich und um die Zukunft bangend, schiffte sie im nächsten Jahr ein und ging, mit einem kleinen Koffer ausgestattet und keinen Pfennig in der Tasche, in Haifa an Land.
Palästina
„… eine Orangenkiste als Nachttisch …“
Im Hafen von Haifa stand ein Arbeitsvermittlungskiosk. Hilde trug sich gleich bei der Ankunft ein, und man verwies sie in ein naheliegendes Kinderheim. Die Arbeit als Aushilfe war unbezahlt, aber wenigstens bekam sie ein Klappbett im lärmenden Schlafsaal und es gab jeden Tag Brei. Hilde bewarb sich um eine Lehrstelle als Säuglingsschwester in Jerusalem und wurde bald, mit nur 20 Jahren, Oberschwester für Neugeborene am Bikur Cholim Krankenhaus.
Geleitet wurde die Station von der energischen Helena Kagan, ursprünglich aus Taschkent. Dr. Kagan war nicht nur Kinderärztin, sondern auch ausgebildete Pianistin und verheiratet mit dem Violinisten Emil Hauser, vormals vom Budapester Streichquartett. Das Paar hatte kürzlich in Jerusalem das Palästinensische Konservatorium ins Leben gerufen, und Dr. Kagan führte Hilde in die Welt der Musik ein.
Daheim in Stettin wurde Hildes Familie von den Nazis verfolgt und terrorisiert. Ihr Vater wurde für mehrere Wochen im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert und gezwungen, sein Geschäft zu verkaufen. Im Jahr 1938 gelang es Hilde und ihrer Schwester Ruth, ihre Eltern und jüngste Schwester nach Palästina zu retten.
Um die Familie zu ernähren, öffnete Alex ein Kinderschuhgeschäft (das erste in Jerusalem), und Hilde arbeitete lange Tage als Verkäuferin. Abends studierte sie Gesang am Konservatorium. “Ich wusste: Singen war das einzig Wichtige in meinem Leben.”
In fünf Jahren absolvierte Hilde ihr Studium, und gleich nach dem Krieg bewarb sie sich erfolgreich um ein Stipendium, um ihre Ausbildung in Zürich fortzusetzen.
Jerusalem
„Ich habe in Jerusalem tatsächlich mehr gelernt, als man es in irgendeinem europäischen Konservatorium könnte.“
Das neu gegründete Konservatorium unterrichtete nur abends. Wie Hilde hatten alle Studenten eine Vollzeitstelle, um ihre Kosten zu decken. Ihre Lehrer waren erstklassige Musiker aus ganz Europa, die nach Palästina geflohen waren. Der Lehrplan war unkonventionell: "Ich hörte Strawinsky vor Bach."
Bald führte Hilde Recitals in der ganzen Region auf, begleitet von ihrem Professor Josef Grünthal (besser bekannt als Josef Tal, einer der bedeutendsten Komponisten Israels). Die in Ungarn geborene Rose Pauly war ein internationaler Star, als sie nach Palästina kam und Hilde unter ihre Fittiche nahm. Hilde blieb ihr Leben lang eng mit Tal und Pauly befreundet.
In Jerusalem gab es weder ein Opernhaus noch eine engagierte Opernausbildung, und die Konzertbedingungen waren oft provisorisch; aber die dabei gesammelten Erfahrungen boten eine einzigartige Grundlage. Vor allem hat Hilde gelernt, konzentriert zu bleiben, jede Gelegenheit zu ergreifen und niemals Zweifel oder Angst zu erliegen. Hilde Zadek würde die erste in Israel ausgebildete Sängerin werden, die in Europa internationales Ansehen erlangte.
Zürich
„Ich habe die Oper Nacht für Nacht besucht.“
Nach ihrem Abschluss in Jerusalem erhielt Hilde ein Stipendium, um ihr Studium am Zürcher Konservatorium fortzusetzen. Sie schaffte es, auf einem Schiff, das britische Truppen aus Alexandria transportierte, eine Überfahrt zu erhalten, landete im kriegszerstörten Süden Frankreichs und machte sich auf den Weg ins Landesinnere. Ein Mann in Jerusalem hatte Hilde einen Brief für seine Tochter in Zürich mitgegeben. Sie half Hilde, Arbeit als Au-pair zu finden, mit einem Dachbodenzimmer als Unterkunft.
Hildes Lehrerin am Konservatorium war die Liedersängerin Ria Ginster, welche 1938 Deutschland verlassen hatte. „Eine wunderbare Sängerin und vor allem ein wunderbarer Mensch.“ Es war Ria Ginster zu verdanken, dass Hilde einige ihrer „harten Gefühle“ gegenüber Deutschen überwinden konnte.
Die junge Bekanntschaft vom ersten Tag blieb in Kontakt, und eines Tages lud sie Hilde ein, ihren Patenonkel Franz Salmhofer, Direktor der Wiener Staatsoper, zu treffen. Nach einem spontanen Vortrag im Wohnzimmer sagte Salmhofer, Hilde solle doch mal vorbeischauen … „Ich brauchte von August 1946 bis Januar 1947, um die 13 Stempel von den verschiedenen Besatzungsmächten zu bekommen, bevor ich die Reise antreten konnte.“